Magazin · Tierschutz aktiv · 7. Juni 2022 · 5 Min. Lesezeit
Sie bringt Hundeglück nach Istanbul: Özlem Sahin im Interview
Für den Verein Hundeglück Filderstadt e. V. ist sie tagtäglich für Straßenhunde in Istanbul im Einsatz: Özlem Sahin ist von ganzem Herzen und aus tiefster Überzeugung Tierschützerin. Im Interview berichtet sie über ihre Arbeit und das Leid der Straßenhunde in der Türkei.
Ohne sie müssten viele Straßenhunde leiden: Özlem Sahin. Foto: Hundeglück Filderstadt e. V.
Regelmäßig lassen wir auf unserem Instagram-Account Tierschützer:innen aus ganz Europa zu Wort kommen, um von den Herausforderungen ihrer Tierschutzarbeit im jeweiligen Land zu berichten. Einer der acht Vereine, der bei unserer Spendenaktion Futter für die Vergessenen teilnimmt, ist Hundeglück Filderstadt e. V. Der in Deutschland ansässige Verein unterstützt Tierschützerin Özlem Sahin in Istanbul.
Liebe Özlem, bitte stell dich einmal kurz vor.
Mein Name ist Özlem Sahin, ich lebe selbst seit zehn Jahren in Istanbul. Seit neun Jahren betreibe ich hier aktiven Tierschutz und seit zwei Jahren arbeite ich auf Vereinsebene bei Hundeglück Filderstadt e. V. Wir versorgen Straßenhunde – hauptsächlich hier in Istanbul.
Wie kam es dazu, dass du dich im Tierschutz engagiert hast?
Es gab für mich nicht das eine prägende Erlebnis. Ich kam einfach dazu, weil ich hier lebe. Wenn man ein Herz für Tiere hat, geht es nicht anders. Ich sehe jeden Tag das Leid der Straßentiere und wie sie behandelt werden und wie sie hungern. Ich konnte einfach nicht wegsehen. So führte Eins zum Anderen: Erst habe ich angefangen, ein paar Hunde zu füttern, dann wurden es immer mehr und mehr Hunde.
Wie sieht deine tägliche Tierschutzarbeit in Istanbul aus?
Ich habe verschiedene Futterstellen, an denen ich zwischen 80 und hundert Hunde füttere. Und das sind nur die Hunde in meiner Nachbarschaft. Die Tiere werden mit Wasser und Futter versorgt und regelmäßig kommen neue Hunde zu meinen Futterstellen. Da wir so viele Hunde wie möglich kastrieren, werden neue Tiere, die nicht kastriert sind, direkt mitgenommen. Auch verletzte und krank wirkende Hunde packe ich direkt ins Auto und fahre sie zu meinem Tierarzt.
Die Versorgung der Hunde nimmt also einen großen Teil meines Tages ein. Zusätzlich unterstützt unser Verein aber auch einen Tierschutzhof, wo ich auch regelmäßig vorbeifahre und kranke oder verletzte Hunde mitnehme, um sie medizinisch behandeln zu lassen.
Dein Einsatz für Tiere ist sicherlich sehr belastend. Was treibt dich an weiterzumachen?
Wenn ich das nicht mache, dann hungern die Tiere. Allein das ist Antrieb genug für mich.
Wie kommt es dazu, dass es in der Türkei so viele Straßenhunde gibt?
In der Türkei gab es schon immer viele Straßenhunde. In den letzten Jahren sind es aber deutlich mehr geworden. Das liegt daran, dass von Seiten des Staates nicht die nötigen Kastrationen umgesetzt werden. Deshalb steigt die Population der Tiere immer mehr an. Als Verein oder Privatperson ist es fast unmöglich, so viele Hunde zu kastrieren.
Weil viele Straßenhunde nicht kastriert sind, werden immer wieder zahlreiche Welpen geboren. Auch um sie kümmert sich Özlem Sahin. Foto: Hundeglück Filderstadt e. V.
Tierschutz zum Hören: In unserem Podcast berichtet Tierschützerin Esma Arslan von der Situation in der türkischen Provinz Yozgat:
Es leben nicht nur viele Hunde in den Städten, sondern auch in den Wäldern. Wie kommt es dazu?
Viele Menschen in der Türkei möchten Hunde nicht auf den Straßen sehen, besonders nicht in den Großstädten. Deshalb passiert es, dass in Nacht-und-Nebel-Aktionen Mitarbeiter der städtischen Tierheime die Straßenhunde einsammeln und sie irgendwo in den Wäldern aussetzen. Warum sie dort ausgesetzt werden? Damit sie ohne Futter und Wasser dort irgendwann sterben. Argumentiert wird so, dass durch diese Maßnahmen die Population der Hunde in den Städten zurückgeht, weil es so wirkt, als seien weniger Hunde in den Städten. Die Innenstädte sollen sauber sein. Dabei wäre die wirksame Lösung eine flächendeckende Kastration.
Existieren in der Türkei Tierheime wie wir sie in Deutschland kennen?
Es gibt schon staatliche Tierheime in der Türkei. Doch es ist nicht so, dass den Hunden dort geholfen wird oder sie gut verpflegt werden. Das kann ich wirklich nicht sagen. Teilweise fehlt es den Tierheimen an Mitteln, doch hauptsächlich liegt es daran, dass der Staat und auch die Mitarbeiter in den Tierheimen keinen Wert auf die Tiere legen. Sie machen den Job einfach nur, weil sie dafür bezahlt werden, nicht, weil ihnen die Tiere wichtig sind.
Es gibt hier keine Tierheime wie in Deutschland, wo gefundene Tiere hingebracht und anschließend in ein neues Zuhause vermittelt werden. Das gibt es hier einfach nicht! Es gibt Einrichtungen, die Rehabilitationszentren genannt werden. Hunde werden hier kastriert und nach zehn Tagen wieder dort ausgesetzt, wo sie gefunden wurden. Doch die Anzahl der Straßenhunde ist einfach zu groß. Es wird nicht ausreichend kastriert.
Manchmal werden auch verletzte Straßenhunde dort aufgenommen. Aber: Sie werden nicht behandelt und vegetieren vor sich hin. Das ist sehr traurig und wir als Verein müssen dann versuchen, diese kranken Tiere aus den Einrichtungen herauszubekommen, um sie medizinisch behandeln zu lassen. Wenn ein Hund dort bleibt, überlebt er nicht!
Ende 2021 gab es einen tragischen Beißvorfall, bei dem Pitbulls ein vierjähriges Kind attackiert haben. Schnell folgte ein politischer Erlass, der das Leben der Straßenhunde veränderte. Was kannst du uns dazu erzählen?
Ich denke, der Vorfall hatte ganz große Auswirkungen für alle Straßenhunde in der Türkei. Die Menschen wurden regelrecht aufgehetzt. Es entstand der Eindruck, dass alle Straßenhunde gefährlich seien. Das war keine schöne Situation. Das Gesetz führte außerdem dazu, dass es in der Türkei extrem viele sogenannte Listenhunde gibt, die ausgesetzt wurden – in Wäldern oder in der Stadt. Diese Hunde laufen hier jetzt auch frei herum.
Sogenannte Listenhunde durften nämlich nur noch gehalten werden, wenn innerhalb kurzer Zeit die Hunde gechippt, kastriert und registriert wurden. Richtig?
Genau. Es gab eine Frist von knapp drei Wochen, um die Listenhunde chippen, kastrieren und registrieren zu lassen. Für viele Menschen war das finanziell nicht möglich. Wir als Verein haben Privatpersonen aber auch angeboten, die Hunde bei unserem Tierarzt vorzustellen und die Kosten zu übernehmen. Einige haben dieses Angebot leider nicht angenommen, weil sie dachten, der Hund könnte wirklich gefährlich sein. Sie wollten ihn einfach nicht behalten.
Zusätzlich gibt es in der Türkei seit diesem Vorfall auch ein Vermittlungsverbot für diese Hunde. Heißt das, dass sie keine Chance mehr auf ein Zuhause haben?
Ja! Bei Listenhunden war es generell immer schwierig ein Zuhause zu finden, wo sie gut aufgehoben sind. Aufgrund der neuen Regelung ist es nun nahezu unmöglich. Das ist eine große Herausforderung für uns und unseren Partnerverein. Denn das bedeutet, dass wir die Tiere ihr Leben lang unterbringen müssen, weil wir sie nie wieder vermitteln können.
Vermittelt ihr generell auch Hunde nach Deutschland?
Wir vermitteln auch Hunde nach Deutschland. Erst letzten Monat wieder. Wer einen Hund aufnehmen oder uns als Pflegestelle unterstützen möchte, kann uns einfach über unsere Website kontaktieren.
Dein Verein ist bei unserer Spendenaktion Futter für die Vergessenen dabei, wo rechtzeitig Futter für die heißen Sommermonate gesammelt wird. Wie warm wird es bei dir in Istanbul?
Es wird sehr, sehr heiß. Im Juni sind es schon um die 30 Grad Celsius, aber es fühlt sich wie 35 an. Bis zum August wird es aber noch deutlich heißer. Alles ist dann wirklich sehr anstrengend. Die Hunde suchen sich tagsüber Schattenplätze und verstecken sich. Deshalb fahre ich im Sommer immer abends zu den Futterstellen, wenn es etwas kühler ist und die Hunde sich aus ihren Verstecken wagen.
Gibt es neben der Hitze noch andere Herausforderungen im Sommer?
In den Sommermonaten gibt es besonders viele Welpen. Auch wenn wir so viel wie möglich kastrieren, kommt immer mal wieder ein neuer Hund dazu, der noch nicht kastriert ist. Teilweise sind die Hunde auch sehr scheu, so dass es kaum eine Möglichkeit gibt, sie einzufangen. Manchmal dauert es dann ein paar Monate, bis ein neuer Hund kastriert wird.
Die Welpen werden sehr oft krank. Durch die Wärme verbreiten Krankheiten sich schneller. Parvovirose oder Staupe sind in der Türkei stark verbreitet und die Welpen sind sehr anfällig.
Im Sommer gibt es hier sehr viele Zecken, die ebenfalls Krankheiten übertragen. Hunderte von Straßenhunden können wir einfach nicht mit Spot-Ons versorgen. Das funktioniert nicht. Es ist einfach nicht möglich, weil es so viele Tiere sind und einige auch gar nicht nah an uns herankommen. Es gibt Hunde, die ich bereits seit Jahren füttere und die sich immer noch nicht näher als fünf Meter an mich herantrauen.
Hier sind aktuell rund 700 Hunde untergebracht: der Tierschutzhof in Istanbul. Foto: Hundeglück Filderstadt e. V.
Was bedeutet es für dich, im Sommer ausreichend Futter vorrätig zu haben?
Genug Futter im Sommer zu haben bedeutet für uns, dass wir unsere finanziellen Möglichkeiten anderweitig einsetzen können: für Kastrationen, für Behandlungen von kranken Tieren und hauptsächlich für den Aufbau unseres neuen Tierschutzhofs, den wir betreiben. Auf diesem Tierschutzhof haben wir aktuell etwa 700 Hunde und es ist ein bisschen eng geworden. Deswegen bauen wir jetzt einen größeren Tierschutzhof, wo die Tiere mehr Platz haben und auch weiterhin neue Hunde hinzukommen können.
Wir nehmen so viele Hunde auf, weil es schwierig ist, einen verletzten Hund, den wir vielleicht über Monate gepflegt haben, wieder auf die Straße zu setzen. Denn dort könnte ihm dasselbe wieder passieren. Deshalb ist der Tierschutzhof für unsere Arbeit so wichtig.
Was wünschst du dir für die Zukunft?
Ich wünsche mir, dass dem Staat die Tiere wichtiger wären. Es muss mehr für Kastrationen getan werden und der Staat muss sich seiner Verantwortung bewusst sein. Die Tiere müssen qualitativ hochwertiger leben können. Zusätzlich wünsche ich mir, dass alle Menschen in der Türkei respektvoller mit den Tieren umgehen. Sie sollen einfach besser behandelt werden.