Magazin · Tierschutz aktiv · 13. März 2022 · 5 Min. Lesezeit
VETO vor Ort bei den türkischen Straßenhunden
Ende Januar reisen Kathleen Engeln und Claudia Lemke für VETO in die Türkei. Sie wollten sich selbst von der dramatischen Situation der Straßenhunde im Land überzeugen und eine Tierschützerin besuchen, die sich seit Jahren für das Wohl der Tiere einsetzt.
Sie sind auf der Suche nach Liebe: Alle Hunde im Tierheim genießen die Nähe der Besucherinnen aus Deutschland. Foto: VETO
Ausgestattet mit Kameras, dicker Winterkleidung und Snacks für die Hunde machen sich Kathleen Engeln und Claudia Lemke am 31. Januar auf den Weg nach Ankara, um von dort aus weiter in die Stadt Sorgun zu fahren. Der Grund ihrer Reise ist leider ein trauriger: Seit im Dezember 2021 ein vierjähriges Mädchen von Pitbulls angegriffen wurde, werden Straßenhunde eingefangen und aus den Städten fortgebracht. Eine entsprechende Anordnung des Präsidenten Erdoğan veranlasst viele Menschen dazu, regelrecht Jagd auf die friedlichen Vierbeiner zu machen. Tierschützende in der Türkei sind besorgt und bitten VETO um Hilfe.
Die Reise zu den Straßenhunden
VETO liegen nicht nur die Hunde und Katzen am Herzen, sondern auch die Menschen, die sich um die Vierbeiner kümmern. Zu vielen Tierschutzvereinen, die VETO angeschlossen sind, besteht ein enger, manchmal freundschaftlicher Kontakt. Die erste Vorsitzende des Vereins Hamburger Internationaler Tierschutz in Not e. V., Esma Arslan, hat Kathleen und Claudia eingeladen, sich in ihrem privaten Tierheim „Umut Evi“ in Sorgun in der Provinz Yozgat ein Bild von der aktuellen Situation zu machen. Bereits am Flughafen treffen sich Kathleen und Claudia mit Esma, um den weiteren Verlauf der Reise zu planen und am nächsten Morgen weiter nach Sorgun zu fahren.
Sorgun liegt etwa vier Stunden entfernt von Ankara. Auf den Straßen liegt Schnee, denn der Winter in diesem Teil der Türkei ist bitterkalt. Nachts können es bis zu minus 20 Grad Celsius werden. Am Straßenrand erblicken die drei immer wieder Straßenhunde. Bei einer größeren Gruppe Hunde halten sie an, um sie zu füttern. Esma reißt eine große Tüte mit Hundefutter auf. Die Straßenhunde sind erfreut und irritiert zugleich. „Das kennen sie gar nicht“, erklärt Esma ihren Besucherinnen aus Deutschland. Die großen Vierbeiner scheinen zum ersten Mal in ihrem Leben nahrhaftes Hundefutter zu fressen.
Einer der Straßenhunde humpelt stark. Esma sagt, dass viele Hunde in dieser Gegend von Autos angefahren würden und die gebrochenen Knochen unbehandelt wieder zusammenwüchsen. Die Tierschützerin bestätigt auch, was dem VETO-Team schon vor der Reise in die Türkei zugetragen wurde: Hunde wie diese würden derzeit von Hundefängern teilweise brutal gejagt und aus den Städten fortgebracht. Wohin genau, sei oft unklar.
Besonders für Welpen stellt die klirrende Kälte eine Gefahr dar. Nachts können es in der Provinz Yozgat bis zu minus 20 Grad Celsius werden. Foto: VETO
Zu Besuch bei Esma Arslan
Esmas Tierheim „Umut Evi“, was übersetzt Haus der Hoffnung bedeutet, beherbergt etwa 400 Hunde. Die meisten sind sehr groß. Sie sind Kangals oder Mischlinge dieser Rasse. Freudig begrüßen die Vierbeiner die Besucherinnen und Esma. Alle möchten gestreichelt und beachtet werden; ihre Sehnsucht nach Zuneigung ist groß.
Das Tierheim besteht aus mehreren großzügigen Freigehegen, einem kleinen Zimmer mit Tisch und Heizstrahler, einem Haus mit mehreren Räumen, einigen Zwingern und großen Unterständen mit Wänden, um die Hunde vor der Witterung zu schützen. Auf dem gesamten Gelände stehen stabile Hütten für die Tiere, damit sie sich zurückziehen und wärmen können.
Alle Schützlinge in diesem Tierheim wirken aufgeschlossen und vital. Esma berichtet aber, dass besonders den alten und sehr jungen Hunden die extreme Kälte zusetze. Erst vor wenigen Tagen seien gesunde Welpen erfroren. Solche Erlebnisse machen Esma und auch ihrem Mitarbeiter Hamza zu schaffen. Dadurch dass Straßen- und Haustiere in der Umgebung nur selten kastriert werden, entsteht immer wieder ungewollter Nachwuchs. Die Kleinen sind trotz aufopfernder Pflege durch die Tierschützer:innen nicht stark genug, um die eisige Kälte der Nacht zu überstehen.
Die rund 400 Hunde in Esma Arslans Tierheim weichen den Besucherinnen nicht von der Seite. Selbst mit der Kamera wird gekuschelt. Foto: VETO
Hunger und Leid im städtischen Tierheim
Im Tierheim „Umut Evi“ wird alles getan, damit es den Hunden so gut wie möglich geht. Esma und ihr Team geben jeden Tag ihr Bestes und retten und versorgen schutzlose Tiere. Ein Besuch in einem der städtischen Tierheime in der Türkei zeigt Kathleen und Claudia jedoch deutlich, dass das Tierwohl nicht überall an erster Stelle steht.
Die Straßen sind bedeckt mit dicken Schneemassen, als die beiden sich auf den Weg zum öffentlichen Tierheim machen. Kathleen und Claudia hatten sich vorher angekündigt, daher steht das Tor zur Einfahrt weit geöffnet. Für gewöhnlich kommen kaum Menschen an diesen abgelegenen Ort. Auf dem großen Gelände gibt es mehrere Freigehege, die nirgends überdacht sind. Vereinzelt stehen Hundehütten im Schnee, doch längst nicht genug für hunderte von Hunden. In einigen Gehegen drängeln sich die Tiere eng aneinander. Alle sind klapperdürr und viele wirken krank. Einige Tiere bluten, bei anderen sind Augen und Schnauze eitrig verklebt. Schutzlos harren sie im kalten Schnee und in ihren eigenen Ausscheidungen aus. Apathisch blicken die Hunde in die Leere.
Futter erhalten die Hunde im städtischen Tierheim nur sehr selten, menschliche Zuwendung bekommen sie nie. Foto: VETO
Manche Gehege stehen komplett leer. An der Reinheit des Schnees ist zu erkennen, dass hier lange kein Hund mehr langlief. Warum hunderte von Tieren in kleinen Bereichen zusammengepfercht werden, während im Nachbargehege ausreichend Platz zur Verfügung steht, erläutern die Mitarbeiter des Tierheims nicht weiter. Dafür berichten sie, wie oft die Tiere gefüttert würden: zwei- bis dreimal pro Woche.
Dieses Tierheim ist ein Ort des Todes. Die meisten Hunde werden hier verhungern, erfrieren oder ihren Krankheiten erliegen. Ist dies so ein Ort, an dem die ungewollten Straßenhunde entsorgt werden?
Zitternd vor Kälte kriecht ein Welpe im städtischen Tierheim in Kathleens Jacke. Foto: VETO
Mit einem mulmigen Gefühl und der Gewissheit, dass viele dieser Hunde um ihr Leben kämpfen müssen, reisen Kathleen und Claudia zurück in die Unterkunft. Am nächsten Tag fahren sie erneut nach Sorgun in Esmas Tierheim. Auch heute wird der Unterschied zur städtischen Einrichtung deutlich: Während des Aufenthalts der beiden Besucherinnen aus Deutschland ist sogar ein Tierarzt anwesend, der die Vierbeiner medizinisch durchcheckt. Esma erzählt, dass er für die Behandlung ihrer Schützlinge nur die Hälfte der Kosten berechne. Auch er scheint den Tierschutz im Herzen zu tragen und hat in Esma eine Verbündete gefunden.
Schweren Herzens und mit vielen neuen Eindrücken im Gepäck verlassen Kathleen und Claudia die Türkei. Sie sind froh darüber, dass Tierschützer:innen wie Esma Arslan sich so rührend um die heimatlosen Hunde kümmern und ihnen Sicherheit schenken. Gleichzeitig belasten sie die Erinnerungen an die Tiere im städtischen Tierheim. Einige von ihnen werden bei dieser nicht artgerechten Haltung nicht lange durchhalten. Diejenigen, die trotz Kälte und Mangelernährung am Leben bleiben, fristen ein Dasein in Trostlosigkeit, Angst und Hunger.
Wir von VETO helfen Tierschutzvereinen wie dem von Esma Arslan, denn jedes Tier hat ein Recht auf ein sicheres Leben – auch ein Straßentier. Deutlich sprechen wir uns gegen die Anordnung von Präsident Erdoğan aus, denn nicht alle Straßenhunde – unabhängig von der Rasse – sind gefährlich und die hohe Anzahl der freilebenden Vierbeiner in türkischen Städten ist ein menschengemachtes Problem. Durch gezielte und flächendeckende Kastrationen der Tiere könnte ihre Population eingedämmt werden. Die aktuellen Maßnahmen jedoch sind grausam und inhuman.