Magazin · Tierschutz aktiv · 10. Juni 2024 · 5 Min. Lesezeit
Mensch gegen Straßentier – Ein europaweiter Konflikt
Straßentiere und Menschen stehen immer wieder in Konflikt, obwohl das Leid der vielen Straßenhunde und Straßenkatzen ein menschengemachtes Problem ist. Erfahre hier die vielschichtigen Hintergründe dieser Auseinandersetzung. Wir zeigen dir zudem, welche fatalen Folgen dies vielerorts für die Tiere hat.
Gerade große Straßenhunde sind vielerorts ungern gesehen und werden als Bedrohung wahrgenommen. Foto: VETO
Es ist nicht ihre Schuld, dass ihr Anblick vielleicht einige Tourist:innen erschreckt. Es ist nicht ihre Schuld, dass sie so viele sind. Straßentiere werden vertrieben, verletzt und getötet – ohne für die Problematik, die Menschen in ihrer Existenz ausmachen, verantwortlich zu sein. Denn am Anfang der Kettenreaktion, die vielerorts zu den hohen Populationen an Straßentieren führt, steht immer der Mensch.
Hintergründe und Ursachen für die hohe Anzahl an Straßentieren
Straßentiere sind ehemalige Haustiere oder deren Nachfahren. Sie wurden ausgesetzt, wenn sich ihre Halter:innen nicht mehr um die Tiere kümmern wollten oder konnten – und das häufig unkastriert. Gerade in süd- und osteuropäischen Ländern ist das Bewusstsein für Tiere als Familienmitglieder häufig noch nicht vorhanden. Hunde werden draußen oder in Verschlägen gehalten und oftmals nur für einen bestimmten Zweck angeschafft. Sind sie für diesen Zweck nicht mehr zu gebrauchen, wird sich ihrer kurzerhand entledigt.
In Griechenland dienen Hunde häufig als lebendige Alarmanlagen. Die sogenannten Ketten– beziehungsweise Tonnenhunde sollen rund um die Uhr Gelände bewachen. In jungen Jahren werden die Hunde dazu schon an schwere Ketten gelegt und an ihnen fristen sie ihr ganzes Leben. Zuwendung und Fürsorge lernen sie meist nie kennen. Sind sie für ihre Aufgabe nicht mehr geeignet, werden sie abgeschafft.
Ein Leben, das lediglich einer bestimmten Funktion dient, müssen auch die Jagdhunde in Spanien führen. Galgos, Podencos und andere Jagdhunde werden hier massenhaft für die Hasenjagd gezüchtet und oftmals mit brutalen Methoden abgerichtet und misshandelt. Jagdhunde, die nicht den Erwartungen der Jäger entsprechen, werden gnadenlos aussortiert. Vor allem zum Ende der Jagdsaison ist die Situation in Spanien dramatisch. Zehntausende Jagdhunde landen dann oft unterernährt und schwer verletzt auf der Straße.
Ob Wach- oder Jagdhund, Spielkamerad für Kinder oder Schmusekatze – die einstigen Rollen der Straßentiere mögen unterschiedlich gewesen sein. Doch sie vereint: Menschen haben entschieden, sich nicht mehr um sie zu kümmern und sie ihrem Schicksal zu überlassen.
Neben den Straßentieren sind auch Haustiere in süd- und osteuropäischen Ländern häufig nicht kastriert. Sowohl Katzen als auch Hunde streunen unbeaufsichtigt durch die Gegend und vermehren sich dann sowohl untereinander als auch mit Straßentieren. Die Folge: Ungewollter Nachwuchs, der dann wiederum ausgesetzt wird. Ein Teufelskreis, in dessen Zentrum der Mensch steht, der sich seiner Verantwortung für die Tiere entzieht.
So leiden Straßentiere in Europa
Häufig wird angenommen, dass die Straßentiere allein zurechtkommen. Doch ohne menschliche Unterstützung bedeutet das Dasein auf der Straße für viele das Todesurteil – gerade für Welpen und Kitten. Die Straßen und entlegenen Gegenden bieten den Tieren weder ausreichend Futter noch Wasserquellen – insbesondere nicht im Sommer, wenn in südlichen Ländern die Temperaturen auf Extremwerte ansteigen und die tägliche Suche nach Nahrung noch kräftezehrender ist.
Das Leben auf der Straße birgt für die Tiere unzählige Gefahren – ob durch den Straßenverkehr, Parasiten und Krankheiten oder Menschen, die ihnen schaden wollen.
Doch das Leid der Tiere wird ignoriert, sie sind nicht mehr gewollt und werden teilweise wie Müll entsorgt. Das zeigt unter anderem ein Beispiel aus der griechischen Stadt Xanthi. Hunde werden dort wie Müll auf einer Deponie ausgesetzt und sich selbst überlassen. Hunderte Tiere halten sich mittlerweile auf der Müllhalde auf und suchen inmitten von spitzen Gegenständen, Tablettenschachteln, Chemikalien und verseuchtem Grundwasser nach Nahrung.
Die Straßenhunde kämpfen auf der Müllhalde ums Überleben. Der Mensch schaut tatenlos zu – oder weg. Foto: VETO
Die einzige Chance für die Tiere: Tierschützende, die alles versuchen, um das Leben der weggeworfenen Tiere zu retten und Verantwortung übernehmen, nachdem sich die ehemaligen Halter:innen dieser einfach entzogen.
Ungern gesehen und zum Tode verurteilt: Das traurige Schicksal der Straßentiere
Tierschützer:innen, die sich für Straßentiere einsetzen, kämpfen oft allein auf weiter Flur. Vielerorts wird Straßentieren mit Ablehnung begegnet. Gerade in Urlaubsregionen möchten die Gemeinden ein sauberes Stadtbild präsentieren und die Straßentiere stören das Image der Tourismusorte und Hotels. Teilweise werden die Urlaubsorte deshalb vor Saisonbeginn „gesäubert“ – die Tiere werden vertrieben, eingefangen oder gar getötet.
„Nach wie vor ist das ‚Säubern‘ der Urlaubsdörfer von Hunden ein großes Problem. Da hilft es nur, schon einige Wochen vor Saisonbeginn zu schauen und zu fragen, ob sich streunende Tiere dort aufhalten und diese gegebenenfalls zu sichern.“
Straßentiere werden vielerorts als Belästigung wahrgenommen – große Tiere, wie Herdenschutzhunde, als Bedrohung. Und der Konflikt, in dem sich Straßentiere und Menschen gegenüberstehen, wird von Seiten der Menschen mit vermeintlichen Lösungen angegangen, die aus Sicht des Tierschutzes verantwortungslos und nicht hinnehmbar sind.
In Rumänien setzt die Politik auf das systematische Töten der Straßentiere. Hier hat sich um das Fangen und Töten der Tiere ein ganzes System gebildet, das vom Staat mit beträchtlichen Geldsummen gefördert wird. Sowohl für die zwischenzeitliche Versorgung als auch die Tötung eines Tieres, erhalten die Betreiber:innen der Tötungsstationen Zuschüsse. Für jeden gebrachten Hund wird eine Prämie von bis zu 75 Euro gezahlt – eine lukrative Einnahmequelle für viele Menschen in Rumänien.
Doch die Gefahr, durch Menschenhand getötet zu werden, lauert für die Straßentiere nicht nur in Tötungsstationen. Viele Tiere auf der Straße fallen Vergiftungsaktionen zum Opfer – teilweise selbst wenn die Tiere von Tierschützer:innen bereits kastriert wurden.
„Das Bewusstsein für artgerechte Tierhaltung und Kastrationen ist vor Ort nicht wirklich weit verbreitet. Viele Menschen sind sogar gegen das, was die Helfer vor Ort tun. So ist uns 2023 eine ganze kastrierte Kolonie vergiftet worden.“
Konflikt zwischen Mensch und Straßentier: Wirksame Lösungswege
Zu der Tatsache, dass die Vorgehensweise, Straßentiere einzufangen, wegzusperren oder gar zu töten, nicht tierschutzkonform ist, kommt die Erkenntnis, dass diese Maßnahmen keinen Erfolg zeigen. Jedes Revier bietet für Straßentiere – ganz gleich, ob Hund oder Katze – eine bestimmte Anzahl an Ressourcen, die den Tieren als Lebensgrundlage dient. Nahrungsangebote, Trinkwasser, aber auch genügend Platz und Rückzugsorte sind hart umkämpft. Die Sterblichkeitsrate von jungen und geschwächten Straßentieren ist deshalb hoch, sodass die Population von Hunden und Katzen automatisch begrenzt wird.
Wenn nun die Anzahl der toten Tiere ansteigt – etwa durch Vergiftungen – werden im Revier Plätze und Ressourcen für andere Tiere frei. Mehr Jungtiere können überleben, Artgenossen aus benachbarten Gebieten siedeln sich an oder ausgesetzte Haustiere besetzen die freigewordenen Plätze. Nach kurzer Zeit ist die Anzahl der Straßentiere genauso hoch wie vor dem Töten der Tiere. Anschließend steigt die Population noch weiter an, weil die Tiere sich untereinander paaren.
Dieser Effekt führt dazu, dass sich die Anzahl der Vierbeiner in einem Gebiet nach einer bestimmten Zeit wieder einpendelt. An der Gesamtzahl der auf der Straße lebenden Hunde und Katzen ändert sich also nichts.
Das Leid der Straßentiere und der Konflikt zwischen ihnen und Menschen kann nur enden, wenn die Tiere als fühlende Lebewesen und als Teil der Gesellschaft anerkannt werden, für die der Mensch verantwortlich ist. Gleichzeitig bedarf es flächendeckender Kastrationen, um die fortlaufende Vermehrung zu unterbrechen. Dabei ist jedoch wichtig: Neben Straßentieren müssen auch Haustiere kastriert werden, sofern diese unbeaufsichtigt durch die Gegend streunen.
Auch diesbezüglich bedarf es also vielerorts eines Umdenkens in der Bevölkerung. Nur wenn dauerhaft Verantwortung übernommen und anerkannt wird, dass der Konflikt menschengemacht ist, kann dieser langfristig gelöst werden.
VETO unterstützt Tierschutzvereine in ganz Europa, die auf dieses Ziel hinarbeiten. Die Tierschützer:innen führen Kastrationsaktionen durch, leisten Aufklärungsarbeit und starten Initiativen. Gleichzeitig gilt es, das bestehende Leid zu mindern und so vielen Straßentieren wie möglich zu helfen – sowohl durch die Versorgung mit Futter und Wasser als auch durch medizinische Behandlungen. Damit diejenigen, die unverschuldet in diesen Konflikt geraten sind, nicht zu einem weiteren Todesopfer werden.