Magazin · Tierschutz aktiv · 07. Oktober 2025 · 7 Min. Lesezeit
Illusion vs. Realität: Wie eine deutsche Tierschützerin im Alleingang für Chefchaouens Straßenhunde sorgt
Während Marokkos Regierung Straßenhunde brutal töten lässt, rettet eine deutsche Frau Tag für Tag ihre Leben. Was Touristinnen und Touristen in Chefchaouen für ein friedliches Zusammenleben halten, ist nur Fassade – dahinter verbirgt sich die Arbeit einer Einzelkämpferin.

Während die FIFA sich zurücklehnt, übernehmen Tierschützende wie Leeny die Verantwortung. Foto: VETO
Milliarden für die WM – kein Cent für die Tiere
Chefchaouen, die berühmte blaue Stadt im Norden des Landes, ist eine von Marokkos touristischen Hauptattraktionen. Der malerische Ort ist 112 Kilometer entfernt von Tanger, wo vor Kurzem die millionenschwere Renovierung des Grand Stade de Tanger fertiggestellt worden ist. Das Stadion ist einer von voraussichtlich sechs Austragungsorten für die FIFA-WM 2030, für die Marokkos Straßen von Hunden „gesäubert“ werden sollen (VETO berichtete). Mit der Ausrichtung der Weltmeisterschaft werden für Marokko und die FIFA Einnahmen in Milliardenhöhe prognostiziert, und Milliarden werden momentan in den Bau und die Renovierung der Fußballstadien investiert. Für den humanen und nachhaltigen Umgang mit den geschätzten 3 Millionen Straßentieren gibt die FIFA keinen Cent aus – und schweigt.
Nachhaltiger Tierschutz vs. inhumane „Säuberungen“
Im September haben wir Eyleen „Leeny“ Kanzler in Chefchaouen besucht, um zu zeigen, was in Marokko wirklich geschieht – und warum nachhaltige Hilfe in den kommenden fünf Jahren wichtig ist. Die Tierschützerin kümmert sich seit 2019 in der Region Chefchaouen um die Straßentiere – mit übermenschlichem Einsatz. Die Deutsche steht stellvertretend für das, was in Marokko möglich wäre, wenn Menschlichkeit an die Stelle von Gewalt treten würde. Was sie in Eigeninitiative mit wenigen Helferinnen und Helfern leistet, sollte Aufgabe des Staates und der FIFA sein: Tiere schützen, statt sie zu töten. Wir haben gesehen, wie Straßenhunde und Menschen in Chefchaouen, kurz „Chaouen“, friedlich miteinander leben. Die Hunde sind wohlgenährt und getaggt – ein Hinweis darauf, dass sie Teil eines TNVR-Programms sind (Hunde werden eingefangen, geimpft, kastriert und wieder freigelassen, gekennzeichnet durch eine Ohrmarke).
Offiziell gibt die marokkanische Regierung Millionen für Tierschutz aus. Sieben Millionen Euro pro Jahr wurden nach eigenen Angaben von 2019 bis 2024 für TNVR-Programme und Maßnahmen wie Tollwut-Prävention und den Bau von Tierheimen bereitgestellt. Alles, um die Straßentierkrise auf humane Weise zu lösen. Aber wird das Geld wirklich für das Wohlergehen der Hunde eingesetzt? Leeny gibt uns eine deutliche Antwort: „Die Regierung hat keinen einzigen Hund kastriert oder geimpft.“ Ehrliche Worte, die mit den Aussagen von anderen Tierschützenden übereinstimmen, die wir in Marokko gesprochen haben, und mit dem, was wir auf unseren Tierschutzreisen bezeugt haben: Straßentiere sind ausschließlich von privaten Vereinen gekennzeichnet, erkennbar an den Vereinswebsites auf den Ohrmarken. Von der Regierung gekennzeichnete Tiere haben wir bis heute nicht gesehen.

Alle getaggten Hunde, denen wir in Chaouen begegnet sind, hatten Ohrmarken von Leenys Verein. Foto: VETO
Auch die sogenannten staatlichen „Fourrières“, die im Rahmen des Regierungsprogramms gebaut worden sind, um den Straßentieren Schutz zu bieten, sind reine Auffangstationen ohne Infrastruktur, wie wir auf unserer Tierschutzreise nach Essaouira im Mai bezeugen konnten. Es häufen sich Berichte, nach denen sich Hunde dort totbeißen und qualvoll sterben, weil sie auf engem Raum ohne Futter oder Wasser gehalten werden. Das bestätigt auch Leeny: „Ich möchte es nicht ‚Shelter‘ nennen. Es sind eigentlich nur Tötungsstationen.“
Die Verantwortung für einen humanen und nachhaltigen Umgang mit den Straßentieren übernehmen ausschließlich private Tierschützende wie Leeny, die 2018 als Touristin nach Chefchaouen gekommen ist und sich seit 2019 vor Ort für die Tiere einsetzt – weil es sonst niemand machen würde. Die fehlende Infrastruktur hat die weitgereiste Tierschützerin bei ihrer Ankunft in Marokko schockiert:
„Es gab in der Region keinen Tierarzt, keinen Tierschutz und keine Shelter – nichts, wo man den Hunden hätte helfen können. Ich war total baff, weil ich viel gereist bin und es immer eine Möglichkeit gab, den Tieren zu helfen. Aus der Not und aus der Verzweiflung heraus bin ich hierher zurückgekommen, um mein Shelter aufzumachen.“
Eyleen Kanzler, Beldi Dog Rescue e. V

2019 hat Leeny ihr Refuge aufgemacht - aus Verzweiflung über die Situation der Straßentiere. Foto: VETO
Not und Verzweiflung, die die Tierschützerin auch nach sieben Jahren vor Ort täglich an ihre Grenzen bringen. Das war zu Anfang anders – auch Leeny ist zunächst der Illusion verfallen: „Als ich nur als Touri hier war, dachte ich, die Straßenhunde seien total integriert.“ Die Realität hat sie schnell eingeholt: „Ich habe festgestellt, dass die Menschen eine gestörte Beziehung zu den Hunden haben. Wir haben viele Fälle mit sehr schlimmen Misshandlungen, mit Verstümmelungen.“ Und nach der ersten Massentötung, die sie in Chefchaouen bezeugt hat, kam ein weiterer Schock: „Dass es noch ein Land gibt, wo Hunde auf so eine Art und Weise getötet werden, war für mich komplett neu.“
„Auf so eine Art und Weise“ bedeutet brutales Einfangen, Erwürgen, Vergiften, Totprügeln oder Erschießen, wie Tierschützende vor Ort dokumentieren.
1000 gerettete Tiere – dennoch droht das Ende
Sieben Jahre später hat Leeny mit ihrem Team rund 1000 Hunden das Leben gerettet, davon 500 geimpft, kastriert und getaggt, und im Refuge von Beldi Dog Rescue sind momentan rund 100 Hunde untergebracht. Aber auch hier wird Leeny momentan von der harten Realität eingeholt: Das Refuge kann an dem Ort nicht bleiben – es gibt Uneinigkeiten mit den Nachbarn und Probleme mit einem Hotel, das nahe des Shelters eröffnet hat. Zudem bekommt Leeny keine offizielle Erlaubnis für dringend notwendige Baumaßnahmen: „Ich habe zwei Jahre lang versucht, Baugenehmigungen zu bekommen und die kriegen wir einfach nicht. Wir müssen hier dringend weg.“
Ziel ist ein größeres Shelter mit besserer Infrastruktur, um noch mehr Hunden zu helfen, denn solange die Regierung wegschaut, lastet die Verantwortung weiterhin auf privaten Tierschützenden – und das sind in Marokko wenige: „Auf die drei bis vier Millionen Straßenhunde kommen, wenn es hochkommt, zehn Shelter,“ schätzt Leeny. Noch mehr Aufklärung bei der Bevölkerung (Erwachsene, aber auch Kinder und Jugendliche) und die Ausweitung ihrer TNVR-Programme sind Leenys Hauptziele – damit der Kreislauf des Tierleids endlich aufhört: „Die einzige Lösung auf lange Sicht ist, wenn wir die Hunde kastrieren, wenn wir die Hunde impfen, wenn sie bleiben können, wo sie geboren und aufgewachsen sind.“ Dafür braucht der Verein ein größeres Grundstück, finanzielle Mittel für Futter, Medizin und Impfungen und mehr Personal. Leeny hat nur wenige Helfer, größtenteils unbezahlte Freiwillige, und sie selbst ist nahezu rund um die Uhr beschäftigt. Trotz andauernder Probleme und täglich neuer Herausforderungen ist aufgeben keine Option: „Wir müssen verhindern, dass noch mehr Hunde in so einen Kreislauf reingeboren werden.“

Beldi Rescue braucht dringend ein neues Grundstück - das jetzige Shelter fällt wortwörtlich auseinander. Foto: VETO
Dauerhafte Lösungsansätze vs. kurzfristige Inszenierung
Seit der Ankündigung der FIFA-WM hat sich die Situation verschärft, sagt die selbstlose Tierschützerin: „Ich spüre auf jeden Fall den Druck der Regierung wegen der WM 2030. Die Bevölkerung will auch schnell eine Lösung haben. Die wollen die Hunde einfach loswerden.“ Staatliche „Fourrières“ werden laut Leeny seit der WM-Ankündigung vermehrt gebaut – alles, um die Illusion von einem Land ohne Straßenhunde zu schaffen. Eine Inszenierung, wie wir sie auch auf unserer Reise in die Türkei beobachtet haben.
„Ich habe das Gefühl, dass sie verhindern wollen, dass die Welt darüber spricht, dass Hunde auf offener Straße erschossen und vergiftet werden. Deren Lösung ist es, das Ganze einfach hinter geschlossenen Türen zu machen.“
Eyleen Kanzler, Beldi Dog Rescue e. V.
Umso mehr drängt die Zeit, jetzt zu handeln, denn wir bei VETO sind sicher, dass mit Hilfe von Menschen wie Leeny die Realität verändert werden kann – und muss. Auf humane Weise, die Mensch und Tier dient. Anstatt durch das Töten der Straßenhunde die Illusion eines „sauberen“ Marokkos für die FIFA-WM zu erzeugen, haben wir fünf Jahre, um eine neue Realität in Marokko zu schaffen. Eine Realität, in der Hunde und Menschen friedlich zusammenleben und Tierleid durch umfassende TVNR-Programme verringert und verhindert wird. Eine Realität, in der nicht ausschließlich private Tierschützende wie Leeny für ein friedliches Straßenbild sorgen, sondern in der die Regierung und die FIFA ihre Verantwortung für dieses menschengemachte Problem übernehmen.
Gemeinsam mit unserem Partnerverein Beldi Dog Rescue e. V. zeigen wir, dass humaner Tierschutz möglich ist. Mit deiner Unterstützung bauen wir ein neues Tierheim, sichern Futter und finanzieren Kastrationen sowie Impfungen.