Magazin · Tierschutz aktiv · 15. Mai 2025 · 7 Min. Lesezeit
VETO vor Ort: Marokko und die Massentötungen von Straßenhunden zur WM 2030
Ein tödliches Spiel um viele Milliarden: Millionen Straßentiere sollen zur FIFA-WM von Marokkos Straßen „weggesäubert“ werden. Gemeinsam mit Notpfote e. V. waren wir vor Ort, um zu recherchieren, wie wir bis 2030 aktiv den Tieren helfen und das sinnlose Morden vermeiden können.

Gemeinsam mit Notpfote e.V. hat VETO in Marokko die Situation der Straßentiere im Vorlauf der WM 2030 dokumentiert. Foto: VETO
Tiermorde für ein „sauberes“ Marokko
Geschätzte 8 Milliarden Euro wird die FIFA mit der WM 2030 in Marokko einnehmen. Bis zu 3 Millionen Straßentiere gibt es schätzungsweise in dem Land. Diese sind den WM-Organisatoren ein Dorn im Auge und sollen für ein repräsentatives Straßenbild getötet werden. Wie ist die Realität vor Ort und was halten die Marokkaner von den brutalen Maßnahmen?
Unser erster Stopp ist Marrakesch. Die international bekannte Metropole, in der es von ausländischen Touristen nur so wimmelt – Amerikaner, Asiaten, Franzosen, Spanier, Deutsche. Jede Sprache hören wir in Medina, dem Zentrum der Stadt. Straßenhunde gibt es hier nicht. Im Souk, dem lebendigen Wirrwarr von Marktständen in der Altstadt, begegnen wir einer Handvoll Katzen und Kitten, die von Touristen und Einheimischen gefüttert werden.
Milliarden für die FIFA und keinen Cent für die Straßentiere
Ein wenig außerhalb des Stadtzentrums ist das Stade de Marrakech, wo wir Vollblut-Tierschützerin Babette Terveer von Notpfote treffen. Das Stadion befindet sich gerade im Umbau, um in fünf Jahren in neuem Glanz zu erstrahlen. Noch ist es eine Baustelle. Von Hunden keine Spur.
Bis zu vier Millionen Touristen besuchen Marrakesch jedes Jahr und ein Vielfaches an Besuchern – und damit Einnahmen – wird für die WM erwartet. Notpfote ist bekannt für Hands-on Einsätze in Krisengebieten und Babette sieht die WM als große Chance, um viele Menschen wachzurütteln und die Organisatoren in die Verantwortung zu ziehen: „Es kann einfach nicht sein, dass ein Sport-Event, das Milliarden generiert, sich aus der Verantwortung zieht, wenn es um die Tötung von Tieren geht, um hier alles schön zu machen für eine Fußballweltmeisterschaft,“ kritisiert Babette.
„Es geht uns nicht darum, die Fußballfans oder den Sport zu verurteilen. Aber die FIFA muss die Verantwortung dafür übernehmen, was mit den Straßentieren hier passiert. Es muss möglich sein, einen Teil der WM-Milliarden für die Tiere zu verwenden – für eine nachhaltige, humane Lösung. Das sollte auch im Interesse der FIFA sein.“
André Meyer, VETO

Vorm Stade de Marrakech treffen wir Babette Terveer von Notpfote. Foto: VETO
Brutale Fangaktionen trotz neuer Regelungen
Laut Angaben der Humane Society Marokko werden im Königreich jedes Jahr 500.000 Straßenhunde bei großangelegten, brutalen Fangeinsätzen getötet. Die wenigen Tiere, die die Fangaktionen überleben, werden in heruntergekommenen Tierheimen ohne Futter eingesperrt (es wird berichtet von 20 Hunden in Käfigen von weniger als einem Quadratmeter).
Ortsansässige bestätigen uns diese „Säuberungsaktionen“. In Essaouira, einer beschaulichen Küstenstadt, erfahren wir von einer Einheimischen mit Tränen in den Augen, dass die zehn bis vierzehn Straßenhunde, die ihre Freundin jeden Morgen am Strand füttert, von einem Tag auf den anderen nicht mehr da waren. Dies sei schon öfter vorgekommen. Alle paar Monate werden Hunde eingefangen und weggebracht. Wohin weiß niemand.
Auf einem Müllabladeplatz am Straßenrand sehen wir die ersten Straßenhunde. Wir halten an, um sie zu füttern und ihnen in der Mittagshitze Wasser zu geben. Sie laufen verängstigt weg, sobald wir ihnen ein wenig näherkommen. Kurz darauf müssen wir die Fütterung abbrechen, weil der Besitzer des Grundstücks die Polizei gerufen hat. Zwischendurch halten wir immer wieder in Dörfern an, um Straßenhunde zu füttern.
Wir sprechen mit einigen Tierschützern in und um Essaouira, die die Straßenhunde und -katzen regelmäßig füttern. Aber das reicht nicht. Es darf nicht sein, dass das Schicksal der Tiere nur in der Hand von Einzelkämpfern liegt. Gemeinsam mit Vereinen vor Ort wollen und müssen wir größer angelegte Hilfe leisten.

Wenige Einheimische füttern die Straßentiere. Foto: VETO
Ein Tierschützer am Ende seiner Kapazität
Wir treffen Azeddine, als möglichen Kollaborationspartner vor Ort in Marokko. Etwa zwanzig Kilometer außerhalb von Essaouira hat der gelernte Zahntechniker und rastlose Tierschützer ein Grundstück, auf dem er aktuell 65 gerettete Straßenhunde beherbergt.
Wir haben Tränen in den Augen, als er berichtet, wie er fast täglich schwer verletzte Hunde von der Straße rettet und in sein Shelter bringt. Viele der geretteten Tiere haben Zecken und Parasiten und durch den Wüstensand trockene Schleimhäute, aber wir bezeugen, wie Azeddine und sein Mitarbeiter sie mit viel Zuwendung behandeln. Es wird schnell deutlich, dass Azeddine ein riesiges Herz für die Tiere hat, aber am Limit seiner Kräfte und Kapazitäten ist.
„Er sieht die ganzen Tötungen, die gerade stattfinden wegen der Weltmeisterschaft und ich habe das Gefühl, dass er alles tun würde, um den Tieren zu helfen. Mich hat er zutiefst berührt.“
Babette Terveer, Notpfote e.V.

Azeddine braucht dringend Hilfe für seinen Shelter. Foto: VETO
Mit den wenigen Mitteln kann er lediglich für das Mindeste sorgen: Futter, Wasser und die Kastration oder Sterilisation von zehn Hunden pro Woche. Er kann einem Mitarbeiter einen Mindestlohn bezahlen, um ihn im Shelter zu unterstützen. Mehr Hunde kann er nicht aufnehmen, weil das Geld für bauliche Maßnahmen fehlt.
Azeddine braucht dringend Hilfe. Die Infrastruktur in seinem Shelter ist mangelhaft. Es gibt kaum Schatten für die Hunde. Keine Rückzugsmöglichkeiten. Nur eine Quarantänemöglichkeit. Es fehlen Gelder für Tierarztbehandlungen, Medikamente und Parasitenbehandlungen, Zwinger, Quarantänestationen, eine vernünftige Wasserversorgung und ein Fahrzeug.
Azeddine wirkt müde und rastlos, strahlt jedoch Kompetenz und starken Willen aus. Man merkt, wie der Vater eines Säuglings unermüdlich für die Straßenhunde in seinem Land kämpft. Tragisch, dass der internationale Tierschutz abhängt von Einzelkämpfern wie dem irischen Paten der Greyhounds Paul O’Riordan (VETO berichtete) und Azeddine.

Azeddine - ein rastloser Tierschützer mit großem Herz. Foto: VETO
Öffentliche Hilfsmaßnahmen, die nicht sichtbar sind
Laut offiziellen Angaben wurden von 2019 bis 2024 jährlich umgerechnet 7 Millionen Euro im Auftrag des Königs von der marokkanischen Regierung für Gemeinden zur Verfügung gestellt, um rechtliche, finanzielle und technische Unterstützung zu bieten und die Straßenhund-Problematik auf nachhaltige Weise zu lösen: Tollwut-Prävention, Ausbau der TVNR-Maßnahmen (Trap-Vaccinate-Neuter-Return, zu deutsch: fangen, impfen, kastrieren, freilassen) und der Bau von Tierheimen.
Gesehen haben wir auf unserer Reise von der Umsetzung dieser kommunalen Maßnahmen wenig. Es gibt bislang nur 14 öffentlich finanzierte Tierheime im gesamten Land. Wir hatten die Gelegenheit, ein öffentliches Tierheim in Essaouira zu besuchen und die Realität war wenig überraschend: Zwei Hunde befanden sich in dem Tierheim.
Wo sind die Hunde?
Für uns wird die Aussage von Unis pour les Créatures und anderen Marokkanischen Tierschutzverbänden bestätigt, dass der Staat bewusst die Bevölkerung belügt und drei Millionen Dosen Gift gegen streunende Tiere kauft, während gleichzeitig behauptet wird, keine Ausrottungskampagnen durchzuführen.
Vorsorge und Aufklärung als nachhaltige Lösung
Vor allem in den Dörfern braucht es zusätzlich echte Aufklärung und Vorsorge- und Hilfsmaßnahmen, wie eine Impfung der Straßenhunde gegen Tollwut. Die Krankheit ist der größte Angstfaktor der Marokkaner im Zusammenhang mit den Tieren, und dient als Rechtfertigung für die brutalen Fangaktionen – mit Folgen:
„Ich bin mir sicher, dass der gewaltsame Umgang mit den Straßentieren dem Image von Marokko deutlichen Schaden zufügt.“
André Meyer, VETO
Beispiele aus anderen Ländern machen deutlich, dass diese Tötungsmaßnahmen nicht nur unethisch, sondern absolut unwirksam sind, da sie zu einem endlosen Kreislauf von uneingeschränkter Vermehrung und Ermordung der Tiere führen.
„Wir reden von geschätzten 3 Millionen Hunden, die auf grausame Art und Weise getötet werden sollen, um hier ein Umfeld zu errichten, das dann für die Menschen, die zu einem Fußball-Event kommen, schön sein sollen. Und das müsste die FIFA unterbinden. Und nachhaltig durch TVNR ändern,“ kritisiert Babette.
Babette nennt Bhutan als erfolgreiches Beispiel dafür, wie ein Land das vom Menschen gemachte Problem der Straßentiere nachhaltig gelöst hat: „Bhutan hat nicht getötet, sondern durch konsequentes Kastrieren und Sterilisieren tatsächlich die Population der Straßenhunde unter Kontrolle gebracht.“

Nur durch konsequentes Kastrieren und Sterilisieren kann die Population der Straßenhunde unter Kontrolle gebracht werden. Foto: VETO
Sidi Kaouki – Menschen und Hunde im friedlichen Miteinander
Sidi Kaouki, eine halbe Stunde von Essaouira entfernt, ist unsere nächste Station für die Recherche. In dem Strandort und Surfer Hotspot sehen wir die ersten kastrierten Straßenhunde außerhalb eines Shelters. Es sind auch die ersten Hunde, die nicht sofort weglaufen, wenn wir uns nähern, sondern freundlich auf uns zukommen.
Sie sind erkennbar sterilisiert und geimpft und leben hier mit den Menschen zusammen. Nachdem wir sie füttern und mit Wasser versorgen, kommen zwei der Hunde mit uns mit an den Tisch und liegen friedlich auf dem Boden, während wir etwas trinken. Ein positives Beispiel dafür, wie es auch laufen kann.

In Sidi Kaouki leben Menschen und Hunde zusammen. Foto: VETO
Die Krise als Chance nutzen – Marokko und die WM 2030 als Vorbild
Jetzt besteht noch die Chance, langfristige Maßnahmen zu starten, Kastrationsprogramme umzusetzen, für Impfungen und Aufklärung zu sorgen und einen sicheren Ort für die Tiere zu schaffen. „Noch haben wir Zeit dafür,“ so André von VETO. „Innerhalb von fünf Jahren sollte es realistisch und machbar sein, durch Kastrationen und Impfungen die Massentötung zu verhindern, sodass Marokko eine Vorbildfunktion für andere Länder und zukünftige Weltmeisterschaften und andere große Sportereignisse einnehmen kann.“
Sollte Marokko nach dem Aufschrei internationaler Tierschützer den Kurs ändern und den Straßenhunden auf humane und nachhaltige Weise helfen, könnte das auch laut Babette eine riesige Chance für das Image des Landes bedeuten.
„Ich glaube, dass die ganze Welt Marokko feiern würde, wenn sich das Land tierschutzkonform auf diese WM vorbereiten würde. Und ich glaube, dass auch ganz, ganz viel Unterstützung möglich wäre.“
Babette Terveer, Notpfote e.V.
Und tatsächlich: Noch während wir durch Marokko reisen, wird ein neuer Gesetzesentwurf veröffentlicht. Der Druck der internationalen Tierschützenden hat offenbar die Regierung gezwungen, zu reagieren: Der Gesetzentwurf stützt sich auf die Rahmenvereinbarung aus dem Jahr 2019 und beinhaltet ein umfassenderes, nationales Programm, das klare Leitlinien unter Einhaltung ethischer und rechtlicher Standards vorschreibt, den Bau von Tierheimen finanziert und die Mitarbeit von 900 medizinischen Mitarbeitern und Tierärztinnen und Tierärzten zur Ausweitung der TVNR-Programme garantiert.

Ein neuer Gesetzesentwurf fordert den humanen Umgang mit Straßentieren. Foto: VETO
Ob sich die Regierung dafür entscheidet, den Gesetzesentwurf und die damit verbundenen Maßnahmen tatsächlich umzusetzen, wird in jedem Fall Marokkos Reputation als Land und den Ruf der FIFA nachhaltig beeinflussen – es kann entweder einen immensen Imagegewinn bedeuten oder einen Verlust, der schwer wieder gutzumachen ist.
Für VETO ist die Entscheidung lange gefallen und wir wollen eine führende Rolle übernehmen, um Marokkos Straßenhunde langfristig zu unterstützen und die FIFA zur Verantwortung ziehen.
Am 11. Juni sprechen wir vor dem EU-Parlament in Brüssel und berichten dort auf der Veranstaltung Dying for the Sake of Football: Culling of Stray dogs in marocco ahead of the 2030 FIFA World Cup über die Straßentierkrise in Zusammenhang mit der WM, die Hintergründe unserer Marokko-Reise und mögliche Lösungsansätze. Mehr Infos gibt es bald hier.
So, wie Marokko in Casablanca das größte Fußballstadion der Welt baut, haben wir fünf Jahre, um die größte, nachhaltige Tierschutzaktion auf die Beine zu stellen und der FIFA und den Menschen in Marokko und der Welt zu beweisen, dass Tierschutz human und würdig sein kann. Mit der Bereitstellung mobiler Kastrationseinheiten, dem Bau moderner Tierheime und der kontinuierlichen Versorgung durch Futterspenden.
Mit der Unterstützung für die Erweiterung und den Ausbau von Azzedines Shelter ist der erste Schritt getan.
Am Ende wird es ein riesiger Schritt für die Zukunft der Straßentiere sein!