Magazin · Tierschutz aktiv · 17. September 2025 · 7 Min. Lesezeit
VETO vor Ort in der Türkei – zwischen Zweifel und Zuversicht
Ein Jahr nach dem Massaker in der Türkei waren wir erneut vor Ort. Von emotionalen Begegnungen mit Anwohnern bis zu einer spontanen Rettungsaktion – lies hier, was wir erlebt haben.

Ohne den Einsatz von engagierten Tierschützenden, würden Straßenhunde wie dieser dem Massaker zum Opfer fallen. Foto: VETO
„Wenn die Welt nicht hinsieht, werden sie die Straßentiere in der Türkei ausrotten.”
Amina Meriç, Stop the Killing e. V.
Aussagen wie diese lassen uns nur eine Möglichkeit: Wir dürfen jetzt nicht aufhören, uns für die Tiere in der Türkei mit allen Mitteln einzusetzen. Amina berichtet, dass laut einer Statistik 1,7 Millionen von den ehemals 4 Millionen Straßentieren das Massaker bis heute überlebt haben. Aktivisten wie Ibrahim Kaya schätzen die Zahl auf nur noch etwa sechs- bis siebenhunderttausend.
Morde, bei denen der Großteil der türkischen Bevölkerung wegsieht. Aus Resignation, Angst, Propaganda und Geldnot: Privatleute bekommen laut Aussagen der türkischen Tierschützenden bis zu fünf Euro pro getöteten Straßenhund und Kommunen werden angehalten, Tiere einzufangen – angeblich, um sie in staatliche Tierheime zu bringen. Tierschützende dokumentieren seit Einführung des Straßentiergesetzes im letzten August stattdessen brutale Tötungsaktionen.
Im August dieses Jahres waren wir in Gölcük und Ankara, um uns persönlich ein Bild von der Realität vor Ort zu machen. Wir haben mit türkischen Aktivistinnen und Aktivisten sowie Tierschützenden gesprochen, um zu sehen, wie unsere bisherige Hilfe umgesetzt worden ist und wie wir den überlebenden Straßentieren weiterhin helfen können.
Besuch des städtischen Tierheims in Gölcük
„Was wir gesehen haben, war im Vergleich zu anderen Tierheimen nicht dramatisch, aber gleichzeitig bleiben Zweifel, dass wir nur eine Inszenierung zu Gesicht bekommen haben.“
Trajan Tosev, VETO
Das staatliche Shelter wirkt gepflegt – es gibt mehrere Mitarbeiter, die Zwinger sind sauber und die rund 100 Hunde machen einen vergleichsweise guten Eindruck. Wir werden von mehreren Tierschützenden bei unserem Besuch begleitet, die uns jedoch erklären, dass dieser Zustand nicht der Realität entspreche: Man habe gewusst, dass unser Besuch anstehe, und deshalb alles kurzfristig „hergerichtet“. Ob das wahr ist, können wir nicht beweisen – uns bleiben jedoch Zweifel. Unser Besuch wird zudem von den Mitarbeitenden des Tierheims gefilmt – zu deren Absicherung. Für uns eine Bestätigung, dass unsere Arbeit fruchtet, weil wir nicht wegsehen.

Das staatliche Tierheim legt Wert auf sein Image nach Außen - doch ob intern das Wohl der Tiere an erster Stelle steht, ist fraglich. Foto: VETO
„Die Türkei bekommt Schiss, weil das Ausland hinschaut.“
Amina Meriç, Stop the Killing e. V.
Unser zweiter Stopp führt uns nach Gölcük. Nachdem wir kaum Tiere auf der Straße sehen und uns unsere Kontakte vor Ort von 4.000 bis 5.000 Straßenhunden in der Stadt vor Einführung des Straßentiergesetzes berichten, rechnen wir aus, dass in 12 Monaten rund 4.000 Hunde aus Gölcük „verschwunden“ sind – das sind mehr als 10 Hunde pro Tag. Hunde, die wahrscheinlich getötet worden sind.
Unser Plan ist es, die wenigen verbliebenen Hunde aus Gölcük an einen sicheren Ort zu bringen – in das private Shelter Patili Cocuklar Koruma Derneği in Ankara. Gerade im Hinblick auf die immer weiter steigenden Zahlen der getöteten Tiere zählt für uns das Überleben eines jeden einzelnen Hundes.
Rettung der Straßenhunde und eine emotionale Begegnung mit den Anwohnenden
Unsere Rettungsaktion, die wir nur dank Spenden aus der VETO-Community möglich machen konnten, steht gemeinsam mit einem Team aus Tierschützenden und einem lokalen Tierarzt am nächsten Morgen an. Manche Tiere lassen sich problemlos einfangen, andere locken wir mit Futter. In Einzelfällen müssen wir mit Hilfe von Beruhigungsmitteln sichern, und die Rettung von wenigen Hunden, die versteckt bleiben, müssen wir den Tierschützenden vor Ort zu einem späteren Zeitpunkt überlassen.

Ein Team aus Tierschützenden ist voller Energie im Einsatz, um den wenigen verliebenen Straßenhunden ein Leben in Sicherheit zu schenken. Foto: VETO
Bereits nach kurzer Zeit kommen Anwohnerinnen und Anwohner und beobachten die Rettung – unklar, ob sie uns unterstützen würden oder nicht. Schnell stellt sich heraus, dass es sich um tierliebe Einheimische handelt, die eine enge Bindung zu den Hunden aufgebaut hatten. Eine Frau bricht in Tränen aus, als sie sich von den Tieren verabschieden muss. Sie berichtete, dass sie viele der Hunde seit dem Welpenalter kenne, sie regelmäßig gefüttert und sich um sie gekümmert habe: „Ich bin überzeugt davon, dass jedes Lebewesen – genau wie wir Menschen – ein Recht auf Leben hat. Kein Gesetz darf ihnen dieses Recht nehmen.“ Ein anderer Mann kommt hinzu, ebenfalls sichtlich bewegt. Beide weinen, verabschieden sich von jedem Tier und ringen mit ihren Emotionen.
„Ohne das Engagement dieser Einheimischen hätten die Tiere wahrscheinlich nicht überlebt. Für uns war dieser Moment schwer erträglich – und gleichzeitig die größte Motivation, weiterzumachen. Eine wertvolle Begegnung, die belegt, dass es in der Türkei viele Menschen gibt, die sich mitfühlend um die Hunde kümmern und das Straßentiergesetz kritisch sehen.“
Trajan Tosev, VETO
Besonders bewegend ist die Rettung einer Mutterhündin, deren Welpen wir nicht auffinden können. Unsere Bedenken, dass sie getötet worden sind, bestätigen sich glücklicherweise nicht: Einen Tag später finden wir die Jungtiere und bringen sie zusammen mit der Mutter in das private Shelter nach Ankara. Wir sind erleichtert. Zusammen mit den Welpen können wir fast alle verbliebenen Hunde retten, untersuchen und im Shelter in Ankara unterbringen. Die lokalen Tierschützenden versichern uns, dass sie die wenigen verbliebenen Tiere zeitnah von der Straße holen werden.
Es ist nur ein kurzes Aufatmen, denn die nächste Mission steht bereits an – eine spontane Rettungsaktion aus dem städtischen Shelter.

Welpen wie diese haben nur eine Chance, wenn Tierschützende sie von der Straße retten, sie aufpäppeln und im Tierheim heranziehen. Foto: VETO
Sicherung der Tiere aus dem staatlichen Tierheim
Ein Aktivist bittet uns noch am selben Tag, zum städtischen Tierheim zurückzukehren, um zwei Hunde zu retten: eine hochschwangere Hündin sowie einen kleinen Pudel, der uns bereits am Vortag aufgefallen ist. Natürlich stimmen wir zu und holen beide Hunde aus dem Shelter. Nach ihrer Sicherung bekommen wir die Information, dass zusätzlich zwanzig bis dreißig weitere Hunde freigegeben werden könnten. Auch diese Hunde können wir noch in derselben Nacht in unserem Partnerverein in Ankara in Sicherheit bringen – ihre Leben sind gerettet.
Besuch des privaten Shelters in Ankara
Um zu schauen, ob die von uns geretteten Tieren gut aufgehoben sind, wie die Mittel aus unserer Kampagne angekommen sind, was vor Ort noch fehlt und wie die nächsten Schritte aussehen, besuchen wir am nächsten Tag das private Shelter Patili Cocuklar Koruma Derneği. Seit acht Jahren betreibt das Ehepaar Musa und Merve Törün das Shelter. Das Grundstück ist karg und bislang ohne Infrastruktur: „Alles, was hier entstanden ist, haben wir Schritt für Schritt selbst aufgebaut. Wir haben Platz, aber keine Mittel. Es fehlt an Gehegen, Wasser, Futter – manchmal sogar an einer einfachen Spritze,“ so Musa.
Mit Mitteln für Baumaßnahmen aus unserer Kampagne haben wir bereits geholfen: Eine bislang ungenutzte Fläche wurde eingeebnet und in den dort aufgebauten (bislang provisorischen) Gehegen sind nun die rund fünfzig Hunde untergebracht, die wir aus Gölcük retten konnten. Mit Mitteln aus der jetzigen Kampagne sollen die Gehege mithilfe von Dächern, Sonnenschutz und Hundehütten wetterfest gemacht werden. Desweiteren will das engagierte Ehepaar einen separaten Auslaufbereich für die Neuzugänge und die anderen Hunde schaffen, die bislang in Einzelgehegen untergebracht sind: „Wir träumen davon, ihnen sichere Spiel- und Auslaufflächen zu bauen, damit sie rennen und toben können. Doch das alles sind akute Bedürfnisse, die wir allein nicht finanzieren können.“

Sichere Zuflucht: Das sind die Gehege, die mit den Spenden unserer Community bereits aufgebaut werden konnten. Foto: VETO
Neben dem Paar, das die Hauptverantwortung trägt, gibt es mehrere festangestellte Helfer und eine professionelle, tierärztliche Betreuung. Diese untersuchte unsere Neuankömmlinge aus Gölcük, entnahm gemeinsam mit einer Assistentin Blutproben und kontrollierte den Gesundheitszustand der Hunde. Inzwischen wissen wir, dass einige der Tiere – sowohl von den Straßentieren als auch von den Tieren aus dem staatlichen Tierheim – ernsthafte Erkrankungen hatten und sich derzeit in Behandlung befinden. Einige Hunde haben nicht überlebt – für die meisten kam die Hilfe gerade noch rechtzeitig.
„Nur gemeinsam können wir es schaffen, diesen Hunden ein Überleben zu ermöglichen.“
Musa und Merve Törün, Betreiber von Patili Cocuklar Koruma Derneği
Genau das hat uns diese Tierschutzreise erneut bestätigt: Nur gemeinsam können wir etwas verändern. Die offiziellen Aussagen der Regierung stehen in keinem Verhältnis zum tatsächlichen Zustand der Tiere und Tierheime in der Türkei, und ohne das Engagement von Aktivistinnen und Aktivisten, mitfühlenden Locals und Hilfsorganisationen wie VETO hätten viele Hunde überhaupt keine Überlebenschance. Unsere enge, partnerschaftliche Zusammenarbeit mit privaten Sheltern ist weiterhin notwendig, um langfristig sichere Orte für die Tiere zu schaffen, und wir werden auch künftig nicht wegschauen, sondern die Geschehnisse kritisch begleiten, die Öffentlichkeit aufklären und aktiv Hilfe vor Ort leisten.
Während weiterhin täglich Hunde in der Türkei getötet werden, konnten wir innerhalb von drei Tagen rund 50 Tiere vor dem Tod retten – dank deiner Hilfe! Unterstütze uns dabei, jetzt weiterzumachen: für Sicherheit, medizinische Versorgung und gefüllte Näpfe. Jedes einzelne Tierleben zählt!